Kapitalbasierte Altersvorsorge: ein gefährlicher Irrweg?

5. Oktober 2021  |  Prof. Dr. Stefan Mittnik
Asset Blog kapitalbasierte AV 1920
Wie die gesetzliche Rente zukunftsfest gemacht werden kann, bleibt politisch umstritten. Ein Wertpapier-Baustein könnte das Rentenniveau stabilisieren – dieser sollte allerdings mit einem Risikopuffer versehen sein.

Auch der zurückliegende Bundestagswahlkampf war wieder ein Hoheitskampf in Sachen Rente. Das zeigte die numerische Auswertung der Parteiprogramme in meinem letzten Blog-Artikel. Rund 300-mal tauchte der Begriff „Rente“ in den Wahlprogrammen der Bundestagsparteien auf. Besonders eifrig Die Linke, mit über einem Drittel der Nennungen. Am sparsamsten waren die Grünen, die sich mit dem Zwanzigstel begnügen. Wie die gesetzliche Rente langfristig gerettet werden kann, ist nachzulesen in einem Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats des Wirtschaftsministeriums. Es wurde kürzlich unter Federführung von Professor Axel Börsch-Supan, einem weltweit anerkannten Experten auf diesem Gebiet, ausgearbeitet. Eine zentrale Empfehlung ist, das Renteneintrittsalter an die Lebenserwartung anzupassen, um das Verhältnis von Ein- und Auszahlungszeiten nicht weiter aus dem Ruder laufen zu lassen. Rente mit 68 ab 2042 lautet der konkrete Vorschlag. Keinesfalls abwegig, bedenkt man, dass unsere Lebenserwartung im Schnitt alle acht Jahre um ein Jahr steigt. Wie gerade in Wahlkampfzeiten nicht anders zu erwarten: Der Vorschlag wurde umgehend auf breiter politischer Front abgebügelt.

Wenn das Renteneintrittsalter tabu ist, verbleiben drei weitere Stellschrauben zur Stabilisierung der Rente: mehr Steuerzuschüsse, Absenken des Rentenniveaus oder Erhöhung der Rentenbeiträge. Bei der ersten Option gibt es nur geringen Spielraum. Mit einem Zuschuss von rund 100 Milliarden Euro sind schon jetzt 40 Prozent der gesetzlichen Rentenzahlungen steuerfinanziert. Jedem der 21,2 Millionen Rentner fließen monatlich im Schnitt fast 400 Euro aus Bundesmitteln zu. Oder andersherum: Jeder der 46 Millionen Lohn- oder Einkommensteuerzahler legt neben seinen Rentenbeiträgen, die über das Umlageverfahren verteilt werden, im Schnitt rund weitere 180 Euro an Steuern oben drauf. Sollte es bei einem Weiter-wie-bisher bleiben, werden laut Beirat im Jahr 2060 „mehr als 60 % des Bundeshaushalts in die Rente fließen müssen.“ Die zweite Option ist keine. Zu viele Rentenempfänger würden in die Nähe von Hartz IV rücken. Ein Anziehen der dritten Stellschraube führt aufgrund der demografischen Gegebenheiten in nicht allzu weiter Ferne zu einer exorbitanten Erhöhung der Beitragssätze und damit zu Nettolohnkürzungen sowie zu einem beschäftigungsfeindlichen Anstieg der Lohnnebenkosten.

Mehr Beitragszahlende: Womöglich nicht mehr als ein Strohfeuer

Anstatt am Beitragssatz zu drehen, könnte die Zahl der Beitragenden hochgeschraubt werden, indem – wie im Wahlprogramm der Linken gefordert – „Selbstständige, Freiberufler*innen, Beamt*innen, Manager*innen und Politiker*innen“ in die Beitragspflicht genommen werden. Doch das könnte sich als Strohfeuer erweisen. Von den vier Millionen Selbstständigen sind mehr als die Hälfte Solo-Selbstständige. Viele davon dürften nicht zu den Gutverdienenden gehören und das System langfristig eher be- als entlasten. Die Eingliederung der 1,7 Millionen Beamten in das gesetzliche Rentensystem klingt zunächst verlockend. Doch rund ein Drittel von ihnen dienen im einfachen und mittleren Dienst. Dort ist die Besoldung zum Teil so knapp, dass das Bundesverfassungsgericht Anpassungen verlangt, um einen Abstand von mindestens 15 Prozent zu Hartz IV zu gewährleisten. Diese Anpassungen müssten mit Beitritt in die gesetzliche Rente entsprechend umfangreicher ausfallen. Zudem: Für jeden Euro, den ein Beamter in die Rentenversicherung abführt, muss auch der Arbeitgeber – sprich: der Steuerzahler – ebenfalls einen Euro einzahlen. Ob Gelder direkt als Steuerzuschuss oder als staatsfinanzierter Arbeitgeberanteil in die Rentenkasse fließen, die Haushaltsarithmetik ändert sich dadurch nicht. Zu glauben, dass mehr Köpfe im System die Lösung sind, ähnelt dem Versuch, eine sinkende Galeere vor dem Untergang zu retten, indem man mehr Ruderer an Bord holt.

Umlagefinanziert vs. kapitalbasiert: Was schützt besser vor Armut?

Bleibt das Renteneintrittsalter unantastbar, ist Umdenken gefordert – eine Erkenntnis, die den Widerstand gegen eine kapitalgedeckte Rentenkomponente hat schwinden lassen. Auch die vorletzte Bastion im Parteienspektrum scheint zu bröckeln: Olaf Scholz, bisheriger Bundesfinanzminister, taz-Genosse und ausschließlicher Girokonto-Nutzer, hat jüngst – vielleicht die Ampelkoalition vor Augen – auf die Sinnhaftigkeit von Aktienanlagen zur Altersvorsorge hingewiesen. Ein Bollwerk verbleibt jedoch: Die Linke. Bernd Riexinger, bis vor Kurzem ihr Vorsitzender, warnt: Kapitalbasierte Altersvorsorge ist „ein gefährlicher Irrweg“, denn die Börse könne keine armutsfeste Rente garantieren. Ist es nicht eher das derzeitige Umlageprinzip, das auf eine armutsverfestigende Rente zusteuert? Die Deutsche Rentenversicherung Bund erwartet für 2030 ein Rentenniveau vor Steuern von gerademal 44,3 Prozent des Durchschnittseinkommens – 2005 lag es noch bei 52,6 Prozent.

Die Herausforderung einer kapitalbasierten Rentenkomponente besteht weniger in der Gefahr der Altersarmut. Hier sorgt die Mathematik des Zinseszinses für langfristige Wertsteigerung. Das eigentliche Problem ist die Generationenungerechtigkeit, die durch schwankende Börsen entstehen kann. Was damit gemeint ist, verdeutlicht das folgende, auf empirischen Daten beruhende Beispiel: Die Kollegen Hinz und der drei Jahre jüngere Kunz legen 1967 zwecks Altersvorsorge einen monatlichen Aktiensparplan im Wert von 100 Euro an. Hinz geht Ende Februar 2000 altersbedingt in Rente und erhält für seine eingezahlten knapp 40.000 Euro eine Auszahlung von 511.000 Euro. Kunz, der drei Jahre später an der Reihe ist, erhält als Folge der Dotcom-Börsenkrise nur 165.000 Euro. Zwei Drittel weniger, obwohl er drei Jahre länger angespart hat. Hätten die beiden je nur die Hälfte der 100 Euro in Aktien und die andere Hälfte in Bundesanleihen angelegt, wäre der Unterschied immer noch gewaltig: Hinz kommt mit dem 50/50-Plan auf 319.000 Euro, Kunz mit 212.000 Euro auf ein Drittel weniger. Bei einem reinen Investment in Bundesanleihen, die damals noch Renditebringer waren, hätte sich das Blatt gewendet: Hinz erzielt 164.000 und Kunz 207.000 Euro.

Reservepuffer: Börsenrisiken über Generationen hinweg glätten

In keinem der Szenarien erleiden die beiden Verluste. Es kommt aber zu einer ungleichen Verteilung der Gewinne. Nicht die mangelnde Armutsfestigkeit einer kapitalbasierten Altersvorsorge, sondern die Gefahr der Ungleichbehandlung verschiedener Alterskohorten sollte Herrn Riexinger Sorge bereiten. Doch dieses Problem lässt sich lösen. Bereits 1988 schlugen die US-Professoren Roger Gordon und – der heutige Google-Chefökonom – Hal Varian eine Strategie vor, die die Risiken von begünstigten und weniger begünstigten Generationen über die Zeit glättet. Der belgische Ökonom Christian Gollier präsentierte 2007 einen Ansatz zur generationenübergreifenden Risikoglättung mittels eines kollektiven Reservepuffers. Dieser wird in guten Börsenphasen aufgefüllt, indem ihm ein Teil der üppigen Gewinne gutgeschrieben werden, und umgekehrt befüllt er die individuellen Vorsorgekonten in schwachen Phasen.

In einer Studie zusammen mit meinem Mitarbeiter Christoph Berninger haben wir die Wirkungsweise dieses Prinzips empirisch analysiert. Einfachheitshalber wurden nur Dax-Aktien und als Puffer-Investment Bundesanleihen (abgebildet über den REXP-Index) betrachtet und dabei insbesondere die Aktienrisiken bei der Entscheidung über Reservezu- und -abflüsse berücksichtigt. Die Ergebnisse zeigen, dass nicht nur Kohortenrisiken quasi eliminiert werden, sondern dass auch die Performance profitieren kann. Hätte man Anfang 1967 einen Euro nach diesem Prinzip angelegt, lägen Ende 2020 über 76 Euro im Depot – eine durchschnittliche Jahresrendite von 8,36 Prozent. Bei einem reinen Dax-Investment wären es 62 Euro und mit Bundesanleihen 23 Euro geworden. Die kollektive Reserve sorgt dabei für eine recht gleichmäßige Wertentwicklung. Zudem: Die individuellen Depots wiesen während der 54 Jahre keinen einzigen Verlustmonat auf. Ein reines Dax-Investment brach hingegen in der Spitze um knapp 70 Prozent und ein reines REXP-Investment um sieben Prozent ein.

Gleichmäßige Wertentwicklung durch kollektive Reserve

Wertentwicklung (logarithmische Skala) eines Ein-Euro-Investments in Aktien (Dax), Bundesanleihen (REXP), in ein statisches 50/50-Portfolio aus Dax und REXP und in ein dynamisches Portfolio mit kollektivem Reservepuffer.

Asset Altersvorsorge Chart
Quelle: Berninger und Mittnik, 2021

Aus 4.000 Euro für jeden Neugeborenen könnte eine Viertelmillion werden

Wie aber lässt sich eine kapitalbasierte Komponente in der Altersvorsorge einfädeln? Ein konkreter Vorschlag kam jüngst vom CDU-Abgeordneten Kai Whittaker. Der Staat solle jedem Neugeborenen 4.000 Euro in einen Fonds einzahlen, der das Geld bis zum Renteneintritt am Kapitalmarkt investiert. Steckt man diese Summe in einen Fonds mit Reservepuffer wie oben beschrieben und unterstellt eine jährliche Inflationsrate von zwei Prozent sowie Kapitalmärkte, die ähnlich verlaufen wie in den vergangenen 100 Jahren, entstünde – in heutiger Kaufkraft, mit nur sehr geringem Kohortenrisiko – ein Vorsorgekissen von 250.000 Euro. Rund drei Milliarden Euro oder 0,6 Prozent des diesjährigen Bundeshaushalts müsste der Bund für die knapp 780.000 Neugeborenen dazu jährlich aufbringen. Das – aus parteistrategischer Sicht – Dumme an dem Vorschlag: Im Gegensatz zu den 100 Milliarden Euro Rentenzuschuss würde von den drei Milliarden Euro keiner der heutigen Wähler profitieren. Die Profiteure wären erst ab 2039 wahlberechtigt und könnten erst ab 2088 auf dem Vorsorgekissen ruhen.

Dennoch: Kapitalbasierte Altersvorsorge ist alles andere als ein gefährlicher Irrweg. Der sichere Irrweg wäre, ausschließlich auf die umlagefinanzierte Rente zu setzen. Gefährlich aber dürfte der Weg einer aktienunterfütterten Altersvorsorge für Parteien werden, die sich vornehmlich als Kämpfer für die Alten und sozial Schwachen gerieren. Ihnen könnte in einem Land voller altersarmutsentledigter Aktionäre die kritische Masse in der Wähler*innenschaft abhandenkommen.

Der Artikel ist in leicht geänderter Fassung als Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 12. September 2021 erschienen.

Bild: Denys Nevozhai, unsplash.com

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Prof. Dr. Stefan Mittnik
GRÜNDER, WISSENSCHAFTLICHER BEIRAT
Professor Dr. Stefan Mittnik lehrte von 2003 bis 2020 Finanzökonometrie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Zudem ist er Direktor des Center for Quantitative Risk Analysis sowie Fellow am Center for Financial Studies (CFS) in Frankfurt. Nach der Promotion in den USA lehrte er in New York und Kiel, bevor er nach München wechselte. Er war Mitglied des Forschungsbeirats der Deutschen Bundesbank, Fachkollegiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft sowie Forschungsdirektor am CFS und Ifo-Institut und hatte mehrere Gast- und Ehrenprofessuren im Ausland inne. Seit mehr als 30 Jahren forscht er zu Fragen der Analyse, Modellierung und Prognose von Finanzmarktrisiken und entwickelt Lösungen, bei denen empirische Relevanz statt finanzmathematischer Eleganz im Vordergrund stehen.