Wahlkampfzeit ist die Zeit, in der Parteien über fundamentale Probleme unserer Gesellschaft grübeln und deren Lösungen versprechen. Spätestens seit Norbert Blüms „die Rente ist sicher“ war die Altersvorsorge ein immer wiederkehrendes Dauerthema in Wahlprogrammen. Ob dies auch für die im September anstehende Bundestagswahl zutrifft, soll ein Blick in die aktuellen Wahlprogramme der im Bundestag vertretenen Parteien zeigen. Zu insgesamt 683 Seiten summieren sich die sechs Wahlprogramme. Da diese zum Teil aber noch nicht final sind, könnte akribisches Lesen Zeitverschwendung sein. Um das zu vermeiden, habe ich mich einfachheitshalber der Suchfunktion in den Textdokumenten bedient, um die Häufigkeit von einschlägigen Schlüsselwörtern beziehungsweise passenden Wortteilen festzustellen.
Die Suche nach „rent“, um die Worte oder Wortfragmente „rente“ und „rentner“ mit einem Schlag zu erfassen, erwies sich allerdings als wenig zielführend, denn Begriffe wie „weiterentwicklen“ bzw. „Weiterentwicklung“ sind in den Programmen besonders beliebt und finden sich dort 110 Mal (CDU/CSU: 31, SPD: 25, FDP: 25, Grüne: 19, AfD: 7, Linke: 3). Auch mit dem Wort „transparent“ haben die Verfasser nicht gegeizt. Er durchzieht die Programme insgesamt 63 Mal (Linke: 20, Grüne: 18, FDP: 14, CDU/CSU: 5, SPD:3, AfD: 3). Dagegen wird Kohärenz, wie das Suchergebnis „kohärent“ zeigt, nur viermal propagiert (Grüne: 3, SPD: 1).
Zielführender war, nach „rente“ und „rentn“ getrennt zu suchen. Letzteres taucht insgesamt 21 Mal auf. Die numerische Auswertung scheitert jedoch daran, dass in einigen Programmen von „Rentnerinnen und Rentnern“ und in anderen von „Rentner:innen“ die Rede ist. Die Suche nach „rente“ erwies sich dafür aber als Volltreffer. Insgesamt 283 Mal war das Wort(teil) zu finden. Ornithologen werden sofort einwenden, dass die Eiderente (Somateria mollissima) hier zum Verhängnis werden könnte. Aber selbst im Programm der Grünen findet das als Daunenlieferant begehrte Schnabeltier keine Erwähnung.
Die absolute Häufigkeit eines Begriffs lässt nicht unbedingt auf die Relevanz schließen, denn die Wahlprogramme sind von unterschiedlicher Prägnanz. Ihre durchschnittliche Länge beträgt 113,8 Seiten. Die Spannweite ist allerdings beachtlich und reicht von 66 Seiten (SPD) bis hin zu 148 Seiten (Linke). Standardisieren wir die Häufigkeit von „rente“ und berechnen das Erscheinen pro hundert Programmseiten, dann liegen die Linken mit 66,2 vorn, gefolgt von AfD (59,2) und FDP (51,7). Die hinteren Plätze belegen SPD (40,9) und Union (25,7). Die Grünen (10,4) bilden mit großem Abstand das absolute Schlusslicht.
Bei einem Blick auf die Zahlen fällt auf, dass die kleineren beziehungsweise nicht als Volkspartei einzustufenden Parteien dem Thema Rente mehr Raum einräumen. Blickt man auf die Altersstruktur und das Wählerverhalten bei der vorigen Bundestagswahl, lässt sich ein weiterer Zusammenhang vermuten. Bei den kleinen als auch den großen Parteien gilt: Sind in der Wählerschaft 60- bis 70-Jährige – also die Alterskohorte, die für das Thema Rente besonders empfänglich sein dürfte – überproportional vertreten, tendieren ihre Programme zu einer überproportionalen Nennung von „rente“.
Eine einfache Regressionsanalyse bestätigt diese Vermutung. Regressiert man die „rente“-Häufigkeit pro 100 Seiten auf die Unter-/Überrepräsentation1 60- bis 70-Jähriger in der 2017er Wählerschaft einer Partei und berücksichtigt dabei2 die Einstufung in kleine und große Parteien, kann man die Nennungshäufigkeit von „rente“ in den Wahlprogrammen fast perfekt prognostizieren (siehe Grafik).3 Mit jedem zusätzlichen Prozent an Überrepräsentation der sich mit dem Renteneintrittsalter konfrontierten Alterskohorte erscheint „rente“ im Mittel 0,8 Mal häufiger pro 100 Programmseiten. Die kleineren Parteien legen jeweils mit rund 27 zusätzlichen Nennungen dann noch eine Schippe drauf.
Vor einer Überinterpretation der Ergebnisse sei jedoch gewarnt. Die hier angestellte empirische Analyse hält hochwissenschaftlichen Anforderungen nicht unbedingt Stand. Und wie bereits erwähnt: Die relative Häufigkeit der Verwendung von „rente“ in einem Wahlprogramm sagt noch nichts über die tatsächliche Relevanz der Rentenproblematik für eine Partei – geschweige denn über die beabsichtigte Rentenpolitik.4 Sie signalisiert aber, inwieweit die Verfasser glauben, dass das Thema bei der Wählerschaft gut ankommt.
Da ich schon mal die Dateien auf meinem Notebook geöffnet hatte, konnte ich mir nicht verkneifen, noch nach weiteren richtungsweisenden Begriffen in den sechs Wahlprogrammen zu suchen – ohne dabei allerdings in irgendeiner Weise systematisch vorzugehen. Ein Blick auf die folgende Tabelle signalisiert: Je nach Wahlausgang wird es in der nächsten Legislaturperiode eher „sozial“ oder „digital“ zugehen. Die Themen „steuer“ und „klima“ bleiben uns erhalten. Auch scheint es, dass sich der Wähler zwischen „solidar“, „armut“ und „mindest“ auf der einen oder „wachstum“, „innovati“ und „startup“/„gründer“ auf der anderen Seite entscheiden muss.
Doch aus langer Erfahrung wissen wir: Wahlprogramme formulieren und Wahlprogramme umsetzen sind zweierlei – egal wie die Wahl ausgeht. Und beim Thema Rente ist das ganz besonders sicher.
1 Die relative Unter-/Überrepräsentation ergibt sich durch: 100 x (Stimmenanteil einer Partei bei 60- bis 70-Jährigen/Gesamtstimmanteil einer Partei – 1).
2 Mittels Dummy-Variable.
3 Die statistische Anpassungsgüte (adjustiertes R2) beträgt 0,998, was verdächtig nah an den perfekten Fit von 1 heranreicht.
4 Damit werde ich mich in einem künftigen Blogartikel befassen.
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