Die Europäische Zentralbank (EZB) hat nun endlich reagiert. Während sie in der Vergangenheit Inflationsdruck mit einer Umdefinition des EZB-Inflationsziels statt mit geldpolitischen Maßnahmen „bekämpfte“, hat sie am 21. Juli tatsächlich den Leitzins erhöht. Und zwar gleich um 0,5 Prozent statt um den üblichen Viertelprozentschritt. Dies stabilisierte auch gleich den Eurokurs. Erhielt man letzte Woche weniger als einen Dollar für einen Euro – eine Euroschwäche, die wir in den letzten zwei Jahrzehnten nicht gesehen hatten –, so lag der Kurs mit 1,02 Dollar je Euro nach dem EZB-Entscheid wieder über Parität. Der erstarkte Euro hat direkte Auswirkungen auf die Inflation im Euroraum, denn die Importe verbilligen sich entsprechend. Dies gilt insbesondere für Energieträger, die wesentliche Inflationstreiber sind und fast ausschließlich in Dollar abgerechnet werden.
Für Verbraucherinnen und Verbraucher eine erfreuliche Entwicklung, für Staatshaushälter eher nicht. Die zusätzliche Zinsbelastung treibt Refinanzierungskosten für ihre Schulden in die Höhe. Hochgerechnet auf die gesamte Staatsverschuldung bedeutet ein einprozentiger Anstieg der Refinanzierungskosten für Deutschlands Staatshaushalt eine jährliche Mehrbelastung von rund 36 Milliarden Euro oder 0,7 Prozent des Bruttoinlandprodukts. Für Frankreich wären es 28 Milliarden Euro oder 1,1 Prozent des Bruttoinlandprodukts und für Italien 27 Milliarden Euro beziehungsweise 1,5 Prozent. Noch härter träfe es Griechenland mit jährlichen Mehrkosten von 3,5 Milliarden Euro oder 1,9 Prozent des Bruttoinlandprodukts. Erschwerend kommt hinzu, dass die hochverschuldeten Länder des Euroraums bereits jetzt höhere Zinsen für ihre Staatsanleihen entrichten müssen. Betrug die Rendite für zehnjährige Staatsanleihen Deutschlands am Tag der EZB-Entscheidung 1,29 Prozent, lag sie in den fraglichen Ländern zum Teil deutlich darüber: in Frankreich bei 1,8, in Italien bei 3,65 und in Griechenland bei 3,57 Prozent.
In einigen politischen Kreisen werden diese Zinsdifferenzen gerne mit schädlicher Spekulation gleichgesetzt. Tatsächlich reflektieren sie aber die erhöhten Risiken, die Anlegerinnen und Anleger mit diesen Investments assoziieren und sind somit ein entscheidender Baustein für funktionierende Kapitalmärkte. Vor Einführung der Gemeinschaftswährung konnten die Zentralbanken der Länder trotz unterschiedlicher Anlagerisiken die Zinsen niedrig halten. Inflation und die daraus resultierenden Wechselkursrisiken sorgten letztlich dafür, dass Anleihen von Ländern mit weniger solide geführten Staatshaushalten unattraktiver wurden.
Versuche der Politik, Wechselkursänderungen nur innerhalb festgelegter Bandbreiten zuzulassen, scheiterten Anfang der 1990er Jahre. Großbritannien und Italien sahen sich damals gezwungen, aus dem Wechselkursmechanismus des Europäischen Währungssystems auszutreten, und auch Frankreich konnte sich die enge Bindung des Franc an die D-Mark nicht mehr leisten. Mit Einführung des Euro und der Abschaffung von Wechselkursrisiken entfiel dieser fundamentale Ausgleichsmechanismus für Risikodifferenzen bei internationalen Anlagen. Unterschiede in den Zinssätzen sind das verbleibende Ventil, um Risikoüberdruck abzulassen.
Nun hat die EZB am 21. Juli nicht nur eine Zinsentscheidung getroffen. Mit der Einführung des Transmission Protection Instruments (TPI) beschloss sie auch, das verbleibende Ventil jederzeit außer Kraft setzen zu können, um die Zinsdifferenzierung zwischen den Ländern des Euroraums zu begrenzen. Mit anderen Worten: Steigen die Zinsen für Staatsanleihen eines Landes, kann die EZB Staatsanleihen dieses Landes gezielt aufkaufen. Die zusätzliche Nachfrage steigert die Kurse der Anleihen und senkt dadurch deren effektive Verzinsung. Musste die EZB im bisherigen billionenschweren Anleihekaufprogramm ihre Käufe über alle Länder des Währungsraums entsprechend ihrer Eigentümergewichtung kaufen – also rund 26 Prozent deutsche Anleihen –, so kann sie dies jetzt gezielt für einzelne Länder tun. Und die Hürden, die sich die EZB für die Anwendung des TPI-Programms auferlegt hat, sind intransparent und eher niedrig.
Laut EZB-Pressekonferenz kann es aktiviert werden, „um ungerechtfertigten, ungeordneten Marktdynamiken entgegenzuwirken, die eine ernsthafte Bedrohung für die Transmission der Geldpolitik im Euroraum darstellen.“ Und weiter: „Der Umfang von Ankäufen im Rahmen des TPI hängt von der Schwere der Risiken für die geldpolitische Transmission ab.“ Klare Kriterien sind das nicht. Was kann nicht unter „ungerechtfertigt“, „ungeordnet“, „ernsthafte Bedrohung“ und „Schwere der Risiken“ subsumiert werden? Zumindest eine konkrete Zusicherung in Sachen TPI gab es auf der Pressekonferenz dann doch: „Die Ankäufe sind nicht von vornherein beschränkt.“
Zu befürchten ist, dass sich finanzpolitische Fehlanreize verfestigen. Spätestens seit der Euro-Schuldenkrise im Jahre 2010 hat sich die EZB vergeblich bemüht, Haushalte überschuldeter Länder mittels unnatürlich niedriger Zinsen zu entlasten, damit diese sich dem vorgegebenen Verschuldungsziel von 60 Prozent des BIPs annähern können. Gewirkt hat dies bei den Sorgenkandidaten nicht. Italien, Frankreich und Portugal erhöhten seitdem ihren Schuldenberg um rund die Hälfte. Spanien erhöhte auf mehr als das Doppelte.
Zinsdifferenzen reflektieren die Ausfallwahrscheinlichkeiten von Staatsanleihen und haben so eine disziplinierende Wirkung auf Haushälter. Kauft die EZB nun Staatsanleihen spezifischer Länder, ist es zur gezielten Staatsfinanzierung nicht mehr weit. Es besteht die Gefahr, dass sie so in einen Teufelskreis gerät. Mit steigender Verschuldung eines Staates könnte sie sich gezwungen sehen, mehr Anleihen auf ihre Bücher zu nehmen. Und zwar nicht nur, weil sie die Zinsen in Schach halten will, sondern weil sie einen Staatsbankrott abwenden will, um eigene Verluste zu vermeiden, die im Rahmen einer fälligen Schulden-Restrukturierung anfielen. Zu dieser intrinsisch motivierten Gefährdung der Unabhängigkeit der EZB könnten Krisenländer gewaltigen extrinsischen Druck aufbauen, wenn diese fiskalische Unterstützung fordern. Und zwar nicht nur um die Staatsfinanzen, sondern um die Demokratie zu retten.
Delikat kann sich die Lage bereits nach den anstehenden Neuwahlen in Italien entwickeln. Hier führt die postfaschistische Fratelli d’Italia in den Umfragen und könnte zusammen mit weiteren antieuropäischen Juniorpartnern wie der Lega Nord und der Fünf-Sterne-Bewegung die Regierung anführen. Die Fratelli d’Italia lehnt die im Europäischen Fiskalpakt beschlossenen Maßnahmen zur Haushaltsdisziplin ab und will Italien aus der Eurozone führen. Ob die EZB, die, nachdem es mit der Preisstabilität nicht geklappt hat, sich nun – wie Rainer Hank in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 24. Juli berichtet – den Zusammenhalt des Euroraums zum Ziel gesetzt hat, dann Italien mit einem massiven Kauf italienischer Staatsanleihen von diesem Vorhaben abbringen will, bleibt abzuwarten.
Für den dauerhaften Werterhalt des Euros dürften die von der EZB beschlossenen Maßnahmen keine guten Nachrichten sein. Langfristig orientierte Anlegerinnen und Anleger in der Eurozone sind gut beraten, einen Teil ihres Geldes in nicht auf Euro lautenden Instrumenten zu halten und dabei eine Streuung über verschiedene Währungsräume zu erwägen.
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