Die Frage, was die Wirtschaftswissenschaft zur Sinnhaftigkeit von Robo-Advice sagt, war bereits Gegenstand eines meiner Blog-Artikel. Dort verwies ich auf zwei Studien,1 die zu dem Schluss kommen, dass Privatanleger unter Rendite-Risiko-Betrachtungen besser fahren, wenn sie beim Vermögensaufbau auf Robo-Advice setzen statt auf eigene Entscheidungen. Die Gründe hat Francesco D'Acunto, Ökonomie-Professor und Hauptautor einer der Studien, in unserer Podcast-Reihe erläutert. Ein wesentlicher: Selbstentscheider tappen allzu häufig in Psychofallen, die sie auf Dauer Rendite kosten.
Nicht nur Ökonomen, sondern auch Psychologen und Mediziner haben sich in einer Vielzahl von wissenschaftlichen Untersuchungen mit dem Schicksal von Anlegern befasst. Ihnen geht es dabei weniger um das finanzielle, sondern um das gesundheitliche Wohlergehen. Und hier zeigt sich, dass nicht nur die Rendite, sondern schnell auch Psyche und Gesundheit der Selbstentscheider in Mitleidenschaft gezogen werden können.
Die Geldanlage selbst in die Hand zu nehmen, ist immer eine Option. Das erfordert allerdings Zeit, ein Mindestmaß an Lust sowie nötiges Know-how. Auch wenn all das vorhanden ist, hat das Selbstanlegen seine Schattenseiten. Dass Anleger überproportional mehr Leid bei Verlusten als Freud bei Gewinnen empfinden, ist spätestens seit den Arbeiten der Psychologen Daniel Kahneman und Amos Tversky vor rund vier Jahrzehnten allseits bekannt. Ihre Prospect-Theorie besagt, dass diese Asymmetrie die Folge menschlicher Verlustaversion ist. Konkret: Bei einer Wahlmöglichkeit zwischen einer sicheren Auszahlung in Höhe X und einer risikobehafteten Geldanlage, die im Mittel ebenfalls X abwirft, aber auch nach oben oder unten davon abweichen kann, bevorzugt der typische Anleger die erste Option.
Auch der zur gleichen Zeit von Richard Thaler postulierte Besitztums- oder Endowment-Effekt begründet die Gefühlsasymmetrie. Gemäß Krimhildes Motto im Ring des Nibelungen – „Viel besser, nie besitzen, als verlieren“ – besagt dieser Effekt, dass noch nicht eingefahrene Gewinne weniger wertgeschätzt werden, als erlittene Verluste wehtun. Diese Einstellung kann irrationale Entscheidungen hervorrufen, was für Wirtschaftsakteure im Allgemeinen und für Anleger im Besonderen schwerwiegende Folgen haben kann. Für ihre wissenschaftlichen Leistungen erhielten Kahneman im Jahr 2002 (Tversky verstarb bereits 1996) und Thaler 2017 jeweils den Nobel-Gedächtnispreis in Wirtschaftswissenschaften.
Nicht nur das Empfinden von Freud und Leid ist bei Gewinnen und Verlusten asymmetrisch. Beide Ereignisse werden auch mental unterschiedlich verarbeitet. Dies ergaben Experimente, die Camelia Kuhnen von der University of North Carolina mit Studierenden der Northwestern University in den USA und der Babeș-Bolyai Universität in Rumänien durchführte.2 Verluste führen zu übertriebenem Pessimismus. In der Folge übersteigen subjektive Risikoeinschätzungen das objektive Risiko signifikant. Werden hingegen Gewinne erzielt, hat das kaum einen Einfluss auf die Risikoeinschätzung. Dieser Pessimismus-Bias hat also zur Folge, dass Anleger nach erlittenen Verlusten die Anlagerisiken bei künftigen Entscheidungen systematisch überschätzen. Die Konsequenzen sind Unterinvestitionen in risikobehaftete Anlagen – sprich: Aktien – und letztlich Defizite im Vermögensaufbau.
Noch einen Schritt weiter geht eine Studie an der Universität Tübingen. Hier wurde zusätzlich untersucht, ob es einen Unterschied macht, wenn Gewinne beziehungsweise Verluste endogener oder exogener Natur sind, mit anderen Worten: ob sie selbst- oder fremdverursacht sind. Das internationale Forscherteam unter Leitung von V. S. Chandrasekhar Pammi3 vom Centre of Behavioural and Cognitive Sciences der indischen Universität Allahabad fand heraus, dass selbstverursachte Verluste ein anderes Risikoverhalten hervorrufen als fremdverursachte. Dazu wurde Studierenden eine Folge von Gewinnspielen angeboten, bei denen sie jeweils eine zufällige 50:50-Chance hatten, Geld zu gewinnen oder zu verlieren. Bei einem Teil der Spiele wurde den Teilnehmern allerdings suggeriert, dass das Ergebnis durch eigene Entscheidungen verursacht war. In den anderen Fällen glaubten sie, keinen Einfluss auf den Ausgang gehabt zu haben.
Das Ergebnis: Teilnehmer, die annahmen, dass sie ihren Geldverlust selbst zu verantworten hatten, agierten in der Folge wesentlich risikoscheuer. Wer kein eigenes Verschulden vermutete, dessen Risikotoleranz änderte sich nur unwesentlich. Bei Gewinnen hingegen spielte es keine Rolle, ob diese als exogen oder endogen verursacht wahrgenommen wurden. Es kam nicht zu asymmetrischen Reaktionen im Risikoverhalten.
Angesichts dieser Studienergebnisse verwundert es nicht, dass Anleger, die sich bei den Telekom-Börsengängen um die Jahrtausendwende erstmals zu einem Aktienkauf durchgerungen und dabei die Finger verbrannt hatten, der Börse wieder schnell und dauerhaft den Rücken kehrten. Das wäre vielleicht nicht der Fall gewesen, wenn ein Dritter, zum Beispiel ein Vermögensverwalter, zu dem Investment geraten hätte.
Ein zusätzliches Schmankerl der Tübinger Studie war, dass die Teilnehmer ihre Entscheidungen in einem funktionalen Magnetresonanztomographen (fMRI) trafen, der ihre Hirnaktivitäten aufzeichnete. Dabei zeigte sich, dass bei vermeintlich selbstverursachten Verlusten andere Hirnregionen aktiviert wurden als bei fremdverursachten. Anders als bei Fremdverursachung werden bei selbstverursachten Verlusten bestimmte Regionen in der vorderen Hirnrinde aktiviert. Diese werden mit der emotionalen Verarbeitung von Schuld- und Schamgefühl assoziiert, wie verschiedene fMRI-Untersuchungen4 ergeben haben. Ein Ergebnis, das mit der Erkenntnis übereinstimmt, dass selbstverschuldete Verluste Selbstvorwürfe und Schuldgefühle auslösen.
Nicht nur die psychischen Implikationen sprechen somit dagegen, dass der Privatanleger beim Vermögensaufbau das Heft selbst in die Hand nimmt. Auch sind es die zwangsläufigen Fehlentscheidungen, wenn seine Risikoeinschätzungen nicht von objektiven Gegebenheiten abhängen, sondern davon, wer oder was die Verluste verursacht.
Aus all dem ergeben sich für den Anleger folgende Handlungsempfehlungen:
Teile dieses Artikels veröffentlichte der Autor am 12. Januar 2020 als Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
1 Francesco D’Acunto, Nagpurnanand Prabhala, Alberto G. Rossi, The Promises and Pitfalls of Robo-Advising, Review of Financial Studies, 2019, 32 (5), 1983–2020; und Catherine D’Hondt, Rudy De Winne, Eric Ghysels, Steve Raymond, Artificial Intelligence Alter Egos: Who benefits from Robo-investing?, 6. Juli 2019, https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=3415981
2 Camelia M. Kuhnen, Asymmetric Learning from Financial Information, Journal of Finance, 2015, 70 (5), 2029-2062.
3 V. S. Chandrasekhar Pammi, Sergio Ruiz, Sangkyun Lee, Charles N. Noussair, Ranganatha Sitaram, The Effect of Wealth Shocks on Loss Aversion: Behavior and Neural Correlates, Frontiers in Neuroscience, April 2017, 11, Article 237.
4 Siehe: Petra Michl, Thomas Meindl, Franziska Meister, Christine Born, Rolf R. Engel, Maximilian Reiser, Kristina Hennig-Fast, Neurobiological underpinnings of shame and guilt: a pilot fMRI study. Social Cognitive and Affective Neuroscience, 2014, 9 (2), 150–157; und Neil Mclatchie, Roger Giner-Sorolla, Stuart W. G. Derbyshire, ‘Imagined guilt’ vs ‘recollected guilt’: implications for fMRI, 2016, Social Cognitive and Affective Neuroscience, 11 (5), 703–711.
Bild: Malabika Roy, shutterstock.com
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