Louis Bachelier wollte Mathematik-Professor werden. Unbedingt. Also trat er im Jahr 1900 an der ehrwürdigen Pariser Sorbonne zur Doktorprüfung an. Um den Sprung in die akademische Elite Frankreichs zu schaffen, hätte Bachelier eine Top-Note bekommen müssen – eine mention très honorable. Die Jury um den berühmten Mathematiker Henri Poincaré gab ihm jedoch nur die schwächere Zensur mention honorable. „Ein wenig abwegig” sei das Thema gewesen, befanden die Prüfer. Denn Bachelier hatte ein Gebiet untersucht, das unter Wissenschaftlern als anrüchig galt: die Börse. Seine Arbeit trug den Titel „Théorie de la Spéculation”.
So musste Bachelier jahrelang als freier Dozent durch die französische Provinz ziehen, ehe er eine Professur an der kleinen Uni von Besançon antreten durfte. 1946 starb er – völlig unbekannt. Er hätte mehr Anerkennung verdient gehabt. Seine Doktorarbeit war bahnbrechend. Sie legte den Grundstein für die moderne Finanztheorie. Als Erster rückte Bachelier dem Kapitalmarkt mit den Werkzeugen der Wahrscheinlichkeitsrechnung zu Leibe. Er nahm an, dass die Wertpapierkurse zufällig nach oben und unten driften. Ähnlich wie ein Betrunkener, der schwankend eine Straße hinunterläuft. Weder Richtung noch Ausmaß der Kursveränderungen seien vorhersagbar, meinte Bachelier. Sie folgten nur bestimmten Wahrscheinlichkeiten.
Mathematiker beschreiben solche Zufallsschwankungen mit statistischen Verteilungen. Ihre Allzweckwaffe ist die sogenannte Normalverteilung, bekannt durch die Glockenkurve und ihren „Entdecker‟ Carl-Friedrich Gauß. Das Normale an ihr ist, dass keine dramatischen Ausreißer auftreten. Wie bei der menschlichen Körpergröße. Fünf Meter große Menschen gibt es nicht, und nicht einmal zehn Personen wurden nachweislich größer als 2,50 Meter. Auch der Münzwurf „Kopf oder Zahl” folgt der Normalverteilung. Denn dass 100-mal hintereinander Kopf kommt, ist so gut wie ausgeschlossen. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist eine Zahl mit 30 Nullen hinter dem Komma.
Beim Crash von 1987 stürzte der Dow Jones an einem Tag um mehr als 20 Prozent ab. Dieses Extremereignis hätte laut Normalverteilung seit Beginn unseres Universums eigentlich gar nicht stattfinden sollen.
Weil die Normalverteilung mathematisch gut beherrschbar ist, beschrieb Bachelier die Börsenkurse mit ihr. Die Folge: Gewaltige Kursausschläge kommen in seiner Welt praktisch nicht vor. Im angehenden 20. Jahrhundert schien das eine vertretbare Näherung zu sein. Schien – denn inzwischen ist klar, dass es an den Finanzmärkten viel ruppiger zugeht. Würde die Glockenkurve gelten, dürfte der Dow Jones im Schnitt nur alle 3500 Jahre an einem Tag um mehr als fünf Prozent fallen. In Wirklichkeit rauscht er aber alle 20 Monate so stark nach unten. Beim Oktobercrash von 1987 stürzte der Index an einem Tag sogar um mehr als 20 Prozent ab. Dieses Extremereignis hätte laut Normalverteilung seit Beginn unseres Universums eigentlich gar nicht stattfinden sollen.
Auch die Grundannahme Bacheliers, dass das Auf und Ab der Kurse nur zufällig verlaufe, ist eine sehr grobe Näherung. Mittlerweile weiß man nämlich: Wenn die Notierungen heute einbrechen, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die Börse auch morgen bebt. So wechseln sich ruhige und turbulente Phasen ab. Dass Bachelier seine Theorie vereinfachte, ist eigentlich kein Problem und in der Wissenschaft üblich. Fatal ist allerdings: Die Finanzindustrie rechnet noch immer mit seinen Annahmen und unterschätzt so die Risiken an den Märkten dramatisch. Warum, fragt man sich. Was bringt Banker und Portfoliomanager dazu, auf alte, überholte Thesen zu setzen?
Dazu muss man wissen, was mit Bacheliers Ideen passierte. Nachdem sie einige Jahrzehnte kaum beachtet vor sich hin schlummerten, traten sie ihren großen Siegeszug in der Finanzbranche an. Er begann 1950, als der Ökonom Harry Markowitz die Formeln für den „besten” Depotmix aufstellte. Damit ließ sich plötzlich das Portfolio mit dem geringsten Risiko zusammenbauen – bei einer bestimmten Zielrendite. Oder umgekehrt das mit der höchsten Rendite bei vorgegebenem Risiko.
Das gesamte Gedankengebäude der modernen Finanztheorie ist auf Sand gebaut. Bei größeren Erschütterungen fällt es in sich zusammen.
Einen Schönheitsfehler hatte diese Moderne Portfoliotheorie jedoch: Markowitz baute auf denselben vereinfachenden Annahmen auf wie Bachelier. Und er blieb nicht der einzige geistige Erbe des Franzosen. Zahlreiche Börsenforscher griffen die Ideen auf. Zuerst Paul Samuelson, der 1956 ein Aktienpreismodell entwickelte. Dann Eugene Fama, der in den 60er und 70er Jahren die viel beachtete These der effizienten Märkte aufstellte. Und schließlich der Physiker Fischer Black sowie die Ökonomen Myron Scholes und Robert Merton, die ein Modell zur Bewertung von Optionen austüftelten. Markowitz und all die anderen erhielten für ihre Arbeiten den Nobelpreis – bis auf Black, der zum Zeitpunkt der Vergabe im Jahr 1997 bereits verstorben war.
So reihten sich die Meilensteine der modernen Finanztheorie aneinander, ohne dass jemand die grundlegenden Schwächen beseitigt hätte. Daher ist das gesamte Gedankengebäude auf Sand gebaut, bei größeren Erschütterungen fällt es in sich zusammen. Das Gefährliche daran ist, dass seine Fassade glänzend aussieht und es mathematisch sehr bequem anwendbar ist. Das fiel auch den Profis in den Banken und Vermögensverwaltungen rund um die Welt auf. Sie stürzten sich auf die Formeln, bauten sie in ihre Investmentmodelle ein – und packten sich damit unerwartet hohe Risiken in die Portfolios.
Spätestens bei der Lehman-Pleite im Jahr 2008 wurde klar: Mit der zauberhaften Finanzmathematik stimmt etwas nicht.
Ohne verheerende Folgen blieb das nicht. Zur Katastrophe kam es im August 1998 während der Russlandkrise. Sie brachte den US-Hedgefonds Long-Term Capital Management (LTCM) in Schieflage, zu dessen Management auch die Nobelpreisträger Merton und Scholes gehörten. Weil sich der Fonds mit Anleihen verzockt hatte, verlor er an nur einem Tag mehr als eine halbe Milliarde US-Dollar. Es lag auch am Optionspreismodell von Black, Scholes und Merton, dass LTCM auf die Pleite zuschlitterte. Am Ende musste die US-Notenbank Fed einschreiten, um eine Kernschmelze im Finanzsystem zu verhindern. Sie rettete LTCM, indem sie ein Bankenkonsortium dazu verdonnerte, 3,6 Milliarden Dollar in den Fonds zu schießen.
Im Gedankengebäude der Finanztheorie taten sich also tiefe Risse auf. Ihren Weckruf erlebte die Finanzbranche 2008. Die Lehman-Pleite ließ die Weltfinanzmärkte in diesem Jahr um rund 16 Billionen US-Dollar schrumpfen. Dabei stürzten auch die nach Markowitz konstruierten Portfolios fast ungebremst ab. Spätestens jetzt wurde klar: Mit der zauberhaften Finanzmathematik stimmt etwas nicht, und zwar etwas Grundsätzliches.
Einem war das schon lange aufgefallen: dem Mathematiker Benoît Mandelbrot. Er wetterte seit den 1960er Jahren gegen die Risikoblindheit in der Finanzwelt. Zunächst sah die Investmentzunft wohl schlichtweg keine Notwendigkeit, auf solche Kritik einzugehen. Es lief ja alles mehr oder weniger gut. Seit der Finanzkrise ist das zwar anders. Aber mit der Normalverteilungsannahme lässt sich immer noch am einfachsten rechnen. Seine Kunden kann der Geldprofi mit den nobelpreisgekürten Formeln von Markowitz und Co. ohnehin weiter bluffen. Kaum jemand weiß, welche Gefahren dahinter lauern.
Bleibt die Frage, was das für den Anleger bedeutet. Fest steht: Wer einen Vermögensverwalter anheuert, sollte ihm unbedingt auf den Zahn fühlen. Kennt der Finanzprofi die Schwächen der klassischen Theorie? Kann er das Risiko der Geldanlage verlässlich managen? Dazu muss er zum Beispiel regelmäßig zigtausende Monte-Carlo-Simulationen durchführen, weil das Risiko eben nicht analytisch zu bestimmen ist, sondern nur numerisch, das heißt, indem man eine sehr große Zahl an Möglichkeiten durchspielt. Solche Berechnungen lassen sich nur mit moderner Analysetechnologie beherrschen. Es ist wie in der Luftfahrt. Würden Sie in ein Flugzeug steigen, das nach Bauplänen aus den 1930er Jahren konstruiert wurde? Würden Sie einem Jet-Piloten vertrauen, der seine Instrumente ausschaltet und lieber auf Sicht fliegt? Wahrscheinlich nicht. Die gleiche Skepsis lohnt sich auch bei der Geldanlage.
Der Artikel erschien in leicht geänderter Fassung zuerst als Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 12. März 2017.
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