Die Gießkanne bringt es auch nicht immer

28. September 2017  |  Prof. Dr. Stefan Mittnik
Die Giesskanne bringts auch nicht immer
Diversifikation gilt als Allheilmittel gegen heftige Kursverluste.
In Börsenkrisen versagt sie aber oft. Wird sie überschätzt?

Irgendwann im Juli 2007. Ein Mann, 35, stellt sich ein Depot für den Vermögensaufbau zusammen. Nennen wir ihn Frank. Frank ist Ingenieur, ein sorgfältiger Typ. Er hat viel über die Börse gelesen. Diversifikation ist kein Fremdwort für ihn. Er weiß, dass er das Geld auf mehrere Anlagen verteilen muss, um Risiko und Rendite auszubalancieren. Also steckt er es zu 80 Prozent in den Weltaktienindex MSCI World und damit in rund 1600 Aktien aus den Industriestaaten. Die restlichen 20 Prozent legt er in einen breiten Rohstoff-Index an. Aber nicht einfach so. Er rechnet sogar nach: In den zurückliegenden fünf Jahren hat ein solches Portfolio maximal 15 Prozent verloren – wenn man zum ungünstigsten Zeitpunkt ein- und ausgestiegen wäre. Klingt beruhigend. Der DAX ist in diesem Zeitraum maximal um 50 Prozent eingebrochen. Mit seinem Portfolio fühlt sich Frank daher gut gewappnet für Börsenturbulenzen.

Dennoch ist er 20 Monate später am Boden zerstört. 50 Prozent Verlust hat er gemacht – viel mehr als er je gedacht hätte. Weil die US-Subprimekrise die Finanzwelt erschüttert hat. Weil sich an den Weltbörsen mehr als 16 Billionen Dollar in Luft aufgelöst haben. Wie Frank erging es vielen Investoren, privaten wie Profis. Reihenweise rauschten global diversifizierte Portfolios in der Finanzkrise fast ungebremst in die Tiefe. Auch solche, die noch viel breiter gestreut waren: in Immobilien, Hedgefonds und Schwellenländeraktien. Was ist passiert? Die Diversifikation soll doch vor großen Verlusten schützen. Und ausgerechnet dann, wenn man sie am dringendsten braucht, versagt sie. Wird sie überschätzt? Ist sie ein stumpfes Schwert gegen Börsenkrisen?

Reihenweise rauschten global diversifizierte Portfolios in der Finanzkrise fast ungebremst in die Tiefe.

Warren Buffett ist jedenfalls kein Freund der Diversifikation. „Konzentrieren Sie Ihre Investments”, sagte der Starinvestor. „Wenn Sie über einen Harem mit 40 Frauen verfügen, lernen Sie keine richtig kennen.” Für Börsenlaien mögen die Verheißungen der Diversifikation zumindest wundersam klingen. Sie besagen zum Beispiel, dass das Verlustrisiko in einem Anleihendepot sinken kann, wenn man ein paar Aktien beimischt. Intuitiv ist das kaum zu verstehen. Aktien sind viel riskanter als Anleihen, ihre Kurse schwanken stärker.

Geringer Gleichlauf ist gefragt

Wer dem Geheimnis auf die Spur kommen will, muss das Zusammenspiel von Wertpapieren genauer unter die Lupe nehmen. Erforscht hat es der US-Ökonom Harry Markowitz schon in den 1950er Jahren. Er stellte fest: Wie gut ein zusätzliches Investment das Risiko in einem Depot dämpft, hängt von den Korrelationen ab. Sie sind ein Maß für den Gleichlauf von zwei Wertpapieren und können Werte zwischen minus eins und plus eins annehmen. Plus eins bedeutet perfekter Gleichlauf. Minus eins, dass das eine Investment fällt, wann immer das andere steigt. Bei null erscheinen beide Kursverläufe unabhängig voneinander.

Nehmen wir nun an, dass sich die Kurse von zwei Investments A und B nicht parallel bewegen. Dann gleichen die Gewinne von A etwaige Verluste von B zumindest teilweise aus. Dabei gilt die Faustregel: Je geringer der Gleichlauf, desto stärker werden die Verluste gedämpft, sprich: desto deutlicher sinkt das Risiko im Portfolio. Das leuchtet ein. Ein Beispiel: Ölaktien schwanken stark mit dem Ölpreis. Deshalb fällt ein Depot aus zwei Öltiteln vermutlich deutlich, wenn der Preis für das schwarze Gold einbricht. Airline-Aktien profitieren dagegen in der Regel von einem Ölpreisverfall, weil dadurch Kerosin billiger wird. Ein Portfolio aus einer Fluglinien- und einer Ölaktie federt einen Einbruch des Ölpreises deshalb eher ab und ist risikoärmer.

Das Einzige, was es umsonst gibt

Am besten funktioniert das Ganze, wenn sich die Investments überwiegend gegenläufig bewegen (negative Korrelation). Der Clou an der Sache: Ein Portfolio lässt sich so diversifizieren, dass sein Risiko geringer ist als das Risiko all seiner Bauteile. Darin liegt die Kraft der Diversifikation. Wirtschaftsnobelpreisträger Markowitz nannte sie deshalb „the only free lunch in investing” – das Einzige, was es beim Anlegen umsonst gibt.

In Krisen schwindet der positive Effekt der Diversifikation. Es ist, als hätte man in seiner Wohnung einen Klimaregler, der nicht nur den Geist aufgibt, wenn es draußen besonders kalt wird, sondern der dazu auch noch die Fenster öffnet.

So weit die Theorie, jetzt zur Wirklichkeit. Die ist wie immer komplizierter. Denn Korrelationen sind keine feste Größe. Im Gegenteil: Sie sind sprunghaft, schwanken je nach Börsenlage. Die Krux ist, dass sie ausgerechnet dann nach oben schießen, wenn es an den Finanzmärkten kracht. Bei Franks Börseneinstieg lag die Korrelation zwischen dem MSCI World und dem Rohstoffindex über die vergangenen fünf Jahre bei 0,1. Doch in den 20 Monaten, in denen er investiert war, sprang sie auf 0,6 hoch. Das wurde ihm zum Verhängnis. Kein Einzelfall: In Krisen nimmt der Gleichlauf von Wertpapieren häufig zu. Der positive Effekt der Diversifikation schwindet, und die Verluste im Depot wachsen. Es ist so, als hätte man in seiner Wohnung einen Klimaregler, der nicht nur den Geist aufgibt, wenn es draußen besonders kalt wird, sondern der dazu auch noch die Fenster öffnet.

Der Privatanleger hört auf seinen „Bauch”

Trotzdem: Wer Diversifikation als faulen Finanzzauber abstempelt, macht einen Fehler. Denn wie gut sie funktioniert, hängt davon ab, wie man diversifiziert. Der Privatanleger hört dabei meist auf seinen „Bauch”. Aktien, Anleihen, dazu vielleicht ein Rohstoffinvestment und etwas Gold – fertig ist das Depot. Die Gewichte der einzelnen Positionen legt er Pi mal Daumen fest. Naive Diversifikation, nennen Fachleute das. Hinzu kommt, dass Privatanleger zur Überdiversifikation neigen. Wer seinem Depot die dritte Autoaktie oder den dritten europäischen Aktienfonds hinzufügt, tut sich keinen Gefallen. Er erhöht lediglich die Komplexität im Portfolio. Und Komplexität ist nicht Diversifikation. Denn das Risiko sinkt ja nur dann spürbar, wenn die Papiere nicht im Gleichlauf marschieren.

Ein Profi-Investor ist da zwar einen Schritt weiter. Er setzt die Portfolios nach einem festen Bauplan zusammen. Dazu bestimmt er die Korrelationen der Investments aus historischen Börsendaten und ermittelt damit die Gewichte für den vermeintlich optimalen Depotmix. Doch die meisten Portfolioverwalter wissen nicht, dass diese Korrelationen das Zusammenspiel der Wertpapiere nur sehr grob abbilden. Dass sie von einer linearen Welt ausgehen, in der die Kurse proportional zueinander verlaufen. In ruhigen Börsenzeiten mag das nicht völlig abwegig sein. Man könnte auch sagen: Die Investments bewegen sich in einem gestaffelten Formationsflug.

Private wie Profis packen sich ungeahnte Risiken in die Depots – und erleben zu oft böse Überraschungen.

Heftige Turbulenzen wirbeln diese Ordnung jedoch durcheinander und setzten die Regeln der Korrelationen außer Kraft. Es kommt – um in der Fliegersprache zu bleiben – zu Strömungsabrissen. Die Kurse gehen in den Sturzflug über, und der hinterlässt tiefe Bremsspuren im Portfolio. Private wie Profis packen sich also ungeahnte Risiken in die Depots – und erleben zu oft böse Überraschungen. Das heißt keinesfalls, dass Diversifikation nutzlos ist. Das klassische korrelationsbasierte Konzept ist im Ernstfall aber bei weitem nicht so wirksam wie erhofft.

Automatisierung als Ausweg

Gibt es einen Ausweg? Ja. Für Profis mit viel Know-how. Sie können das Auf und Ab der Korrelationen in den Griff bekommen und ein Anlagemodell stricken, das die Absturzgefahr reduziert, indem das Portfolio in turbulenten Phasen sinnvoll umgeschichtet wird. Dazu müssen sie die Finanzmärkte allerdings laufend beobachten, analysieren und, da die Portfoliotheorie hier keine Lösung parat hat, aufwändige Simulationsrechnungen durchführen. Das alles gelingt dauerhaft nur, wenn man den Geldanlageprozess automatisiert.

Ein „free lunch” ist das für den Anleger nicht, aber es lohnt sich. Denn von den Verlusten, die sich damit langfristig vermeiden lassen, sollte mehr als nur ein Mittagessen rausspringen – auch für Frank.

Der Artikel erschien in leicht geänderter Fassung als Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 17. September 2017.

Bild: frank60/ Shutterstock

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Stefan Mittnik
Prof. Dr. Stefan Mittnik
GRÜNDER, WISSENSCHAFTLICHER BEIRAT
Stefan ist Professor für Finanzökonometrie und Direktor des Center for Quantitative Risk Analysis an der Ludwig-Maximilians-Universität in München sowie Fellow am Center for Financial Studies (CFS) in Frankfurt. Nach der Promotion in den USA lehrte er in New York und Kiel, bevor er 2003 nach München wechselte. Er war Mitglied des Forschungsbeirates der Deutschen Bundesbank, Fachkollegiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft sowie Forschungsdirektor am CFS und Ifo-Institut und hatte mehrere Gast- und Ehrenprofessuren in den USA inne. Seit rund 30 Jahren forscht er zu Fragen der Analyse, Modellierung und Prognose von Finanzmarktrisiken und entwickelt Verfahren, bei denen empirische Relevanz statt finanzmathematischer Eleganz im Vordergrund stehen.