Spielt es eine Rolle, wer die US-Wahl gewinnt?

21. Oktober 2020  |  Paul Jackson
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Es sieht so aus, als würden die US-Bürger Joe Biden zum nächsten Präsidenten wählen. Eine ernste Gefahr für die Börse wäre das nicht.

Ich kann nicht behaupten, die Covid-19-Pandemie vorhergesehen zu haben. Aber immerhin habe ich im Januar vorausgesagt, dass Joe Biden der nächste US-Präsident wird (siehe „The Aristotle List: 10 improbable but possible events for 2020“). Ich stieß damit auf eine Mischung aus Skepsis und Angst. Skepsis, weil die Mehrheit dachte, Biden würde nicht mal die Vorwahlen der Demokraten gewinnen. Und Angst, weil die Investoren fürchteten, ein Präsident Biden würde die Aktienkurse belasten.

Ich rechne nach wie vor damit, dass Biden das Rennen um das Weiße Haus gewinnt. Renommierte Analysten wie die von FiveThirtyEight und 270toWin sehen ihn vor Trump – mit einem komfortablen Vorsprung. Meine Analyse der Umfragen bestätigt das.

Vorteil Biden

Abstand zwischen den Kandidaten in den Umfragen zu US-Präsidentschaftswahlen
(gleitender 10-Tage-Durchschnitt, in %)*
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* Die Grafik vergleicht die Umfragen aus dem Jahr 2020 (Biden - Trump) mit denen aus 2016 (Clinton - Trump). Die Kurven geben den jeweiligen 10-Tage-Durchschnitt der veröffentlichten Umfragen wieder. Wenn an einem bestimmten Tag mehr als eine Umfrage durchgeführt wurde, wurde ein Durchschnitt gebildet. Auf der horizontalen Achse sind die Daten für 2020 aufgetragen. Die Kurve aus 2016 ist so platziert, dass das Datum der Wahl (8. November 2016) mit dem Datum der Wahl im laufenden Jahr (3. November) zusammenfällt. Die Daten für 2016 reichen von 6. Mai bis 7. November, die Daten für 2020 von 1. Mai bis 6. Oktober. Quelle: 270toWin, Wikipedia, Invesco.

Ich weiß, was Sie jetzt denken: Die Meinungsforscher lagen auch vor der letzten US-Wahl daneben. Aber dieses Argument möchte ich in Frage stellen. Der Vorsprung von Biden ist durchweg größer als der von Hillary Clinton vor vier Jahren. Wenn er sich auf diesem Niveau hält, sollte das für einen komfortablen Sieg reichen. Wie die Grafik zeigt, lag der Vorsprung von Clinton bei nur etwa zwei Prozentpunkten. Den hatte sie auch am Wahltag (48,2% zu 46,1% Stimmen). Nur musste Clinton feststellen, dass ein solcher Vorsprung nicht ausreicht, um Präsidentin zu werden. Denn das US-Wahlsystem begünstigt die Republikaner. Bisher zogen schon vier Präsidenten ins Weiße Haus ein, obwohl sie bei der Wahl weniger Stimmen einfuhren – und sie alle waren Republikaner: Rutherford Hayes im Jahr 1876, Benjamin Harrison 1888, George W. Bush 2000 und Donald Trump 2016

Bidens Steuerpläne: überschätzter Effekt

Die Börsianer blicken mit Sorge auf einen möglichen Wahlsieg von Biden. Wenn man dessen politisches Programm betrachtet, verwundert das kaum. Erstens würde die von ihm geplante Anhebung des Körperschaftsteuersatzes von 21 auf 28 Prozent die Nachsteuergewinne der Unternehmen schmälern. Allerdings: Dieser Nachteil dürfte nicht so ins Gewicht fallen, wie viele denken. Wir schätzen, dass Trumps starke Senkung der Körperschaftsteuer von 35 auf 21 Prozent vor drei Jahren den Gewinn pro Aktie im S&P 500 nur um fünf bis zehn Prozent nach oben gehievt hat. Denn die effektiven Steuersätze lagen schon damals deutlich unter 35 Prozent. Bidens Steuererhöhung würde den Gewinn pro Aktie im S&P 500 noch weniger beeinflussen.

Zudem scheint es in der Vergangenheit kaum einen Zusammenhang zwischen dem US-Körperschaftsteuersatz und den künftigen Aktienrenditen gegeben zu haben. So sind zum Beispiel zwischen 1930 und 1950 die Renditen am Aktienmarkt gestiegen, obwohl auch die Steuersätze gestiegen sind. Es gibt wichtigere Einflussfaktoren auf die Börse als die Körperschaftsteuer.

Höherer Mindestlohn: kein Drama

Doch die Unternehmen sehen noch eine zweite Gefahr: die von Biden angepeilte Verdoppelung des Mindestlohns auf 15 Dollar. Sie würde die Arbeitskosten nach oben treiben und die Margen verringern – vor allem für solche Firmen, die viele Arbeiter aus dem Niedriglohnsektor beschäftigen. Aber auch hier gilt: Der Effekt fällt wohl weniger dramatisch aus als vermutet. Aktuell liegt der landesweit vorgeschriebene Mindestlohn zwar nur bei 7,25 Dollar, aber einzelne Bundesstaaten können höhere Sätze festlegen. In Kalifornien, Massachusetts und New York liegt der Mindestlohn schon bei 15 Dollar.

Die dritte Gefahr für die Börse lauert in der anvisierten Angleichung der Steuersätze auf Kapitalgewinne und Einkommen (für Einkommen von mehr als einer Million Dollar). Die unterschiedliche Besteuerung von Dividenden und Kapitalgewinnen war eine treibende Kraft für Aktienrückkäufe. Wenn die Steuersätze angeglichen werden, könnte das Volumen der Rückkäufe durchaus schrumpfen. Wer glaubt, dass Rückkaufprogramme den Aktienmarkt ankurbeln (ich glaube das nicht), der sieht eine solche Politik womöglich mit Sorge. Wer jedoch denkt, dass dieses Finanz-Engineering die Unternehmen von ihrem eigentlichen Geschäft ablenkt (ich denke das), der sieht im Zurückfahren der Aktienrückkäufe eine Chance für Produktivitätszuwächse – und damit langfristig auch für steigende Aktienrenditen.

Demokratische Präsidenten: keine Gefahr für die Börse

Festhalten kann man zudem: Demokratische Präsidenten waren bisher alles andere als eine Bedrohung für den Aktienmarkt. Unter ihnen haben sich die Börsen im Schnitt sogar besser entwickelt als unter republikanischen Amtsinhabern. Von 1853 bis August 2020 warf der US-Aktienmarkt unter demokratischer Präsidentschaft im Mittel 5,2 Prozent Rendite pro Jahr ab, unter republikanischer dagegen nur 3,5 Prozent.

Egal ob Trump oder Biden: Mit einem kniffligen Problem wird der nächste Präsident in jedem Fall zu kämpfen haben – mit dem Schuldenberg, der in der Covid-19-Krise angehäuft wurde. So schätzt das Congressional Budget Office (CBO), dass die US-Staatsverschuldung 2020 von 79 auf 98 Prozent und 2021 auf 104 Prozent des Bruttoinlandsprodukts hochschnellt. Dies entspräche dem Stand von 1945. 2022 könnte die Schuldenquote dann auf den Rekordwert von 106 Prozent aus dem Jahr 1946 ansteigen, nur um in der Folge weiter zu wachsen – auf 109 Prozent im Jahr 2030 und 195 Prozent im Jahr 2050.

Die Schuldzinsen sind heute zwar niedrig, nicht zuletzt dank der Wertpapierkäufe der Fed. Dennoch sollte man nicht damit rechnen, dass das immer so bleibt. Der nächste Präsident – ganz gleich, wie er heißt – wird einen steigenden Druck verspüren, die Steuern zu erhöhen und/oder die Ausgaben zu senken. Ein Präsident Trump könnte in puncto Steuern also zu ähnlichen Maßnahmen greifen wie Biden. Und Biden könnte in puncto Ausgaben ähnlich agieren wie Trump. Die Auswirkungen eines Präsidentenwechsels auf die Finanzpolitik dürften damit geringer ausfallen als allgemein erwartet.

In einem Punkt erwarte ich von Joe Biden allerdings einen deutlichen Kurswechsel: Er wird die Rolle der USA auf der weltpolitischen Bühne anders interpretieren als Trump. Unter Biden könnten die Vereinigten Staaten global wieder eine führende Rolle übernehmen und dabei zugleich die multilateralen Regeln der Diplomatie achten. Die Handelsbeziehungen – und damit auch die Finanzmärkte – könnten davon profitieren. Biden ist zum Beispiel gegen Zölle. Für China klingt das womöglich besser, als es ist. Der große US-Rivale mag unter Biden zwar berechenbarer werden, aber auch effektiver seine Allianzen schmieden.

Goldpreis mit Trump-Prämie

Es kann nicht oft genug gesagt werden: In den internationalen Beziehungen berechenbarer zu werden, ist für die USA enorm wichtig. Vielleicht denken Sie, dass man Erfolg hat, wenn man seine Geschäftspartner ständig auf dem falschen Fuß erwischt. Aber diese Taktik wirkt sich meiner Ansicht nach sehr negativ auf die Geopolitik aus.

Bestätigt wird diese Annahme durch den Goldpreis. Buchstäblich von einem Tag auf den anderen wurde das Edelmetall mit einem erheblichen Aufschlag auf den fairen Wert gehandelt, der sich aus meinem Modell ergibt. Dieser Aufschlag hielt sich unter Trump so hartnäckig, dass ich einen „Präsidenten-Dummy“ in das Modell eingebaut habe – eine Variable, die ich vor November 2016 auf null und danach auf eins setzte. Die daraus abgeleitete „Trump-Prämie“ auf den Goldpreis liegt bei 230 Dollar.

Der Goldpreis könnte daher unter einem Präsidentenwechsel leiden. Allerdings könnte der Preis zuvor noch mal stark anziehen, wenn Biden aus der Wahl als Sieger hervorgeht und Trump das Ergebnis anfechtet. Jeder, der die TV-Serie Homeland kennt, kann sich vorstellen, was droht, wenn Trump seine Niederlage nicht eingesteht. Aber jüngste Äußerungen führender Republikaner deuten an, dass er dabei nicht auf deren Unterstützung bauen kann. Ich bezweifle zudem, dass der Oberste Gerichtshof so parteiisch ist, dass er das Wahlergebnis verfälscht. Und ich gehe auch nicht davon aus, dass das Militär einem Präsidenten folgt, der sich so an die Macht klammert. Zudem gilt: Je deutlicher Bidens Wahlsieg ausfällt, desto unwahrscheinlicher ist eine erfolgreiche Anfechtung des Ergebnisses. Und seit dem ersten TV-Duell und Trumps Covid-19-Infektion hat sich Bidens Vorsprung in den Umfragen noch vergrößert. Es könnte also für eine Weile hässlich werden in den USA, aber ich rechne fest damit, dass Biden am 20. Januar 2021 in sein Amt eingeführt wird (sofern er die Wahl gewinnt). Und dass der Goldpreis dann wieder auf den Stand vor der Trump-Ära sinkt.

Unterm Strich heißt das: Historisch betrachtet erscheint Panik keineswegs angebracht, wenn ein Demokrat ins Weiße Haus einzieht. Biden oder Trump: Auch angesichts der fiskalischen Zwänge dürften die Auswirkungen auf die US-Börse unter beiden Kandidaten gar nicht so unterschiedlich ausfallen. Der Goldpreis könnte nachgeben, wenn Biden die Wahl gewinnt. Zuvor könnte er allerdings noch eine Rally hinlegen, falls Trump das Wahlergebnis anfechtet.

Die hier dargestellte Meinung ist die des Autors, kann von jener anderer Investmentprofis bei Invesco abweichen und sich jederzeit ohne Vorankündigung ändern.

Bild: Luke Michael, Unsplash

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Paul Jackson
Global Head of Asset Allocation Research bei Invesco
Paul Jackson ist globaler Leiter des Asset Allocation Research der Investmentgesellschaft Invesco in London. Zuvor arbeitete er bei Société Générale in Paris und London als Makro-Experte, Aktienstratege und globaler Research-Chef. Er begann seine Karriere bei Morgan Stanley in London in den Bereichen Corporate Finance und Aktien-Research, bevor er zu Morgan Stanley Asset Management nach New York wechselte. Paul hat Wirtschaftswissenschaften an der London School of Economics und Wirtschaftsphilosophie in Oxford studiert.