Es begann mit einer einfachen Frage: Zahlt Deutschland noch Entwicklungshilfe an China? Ich habe sie vor ein paar Monaten in einer privaten Diskussion aufgeschnappt. Kennen Sie die Antwort? Ich erinnerte mich nur, dass vor rund zehn Jahren Dirk Niebel, damals Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, ankündigte, die Entwicklungshilfe für China auslaufen zu lassen. Ich wollte es genau wissen, deshalb recherchierte ich. Ergebnis: Laut Bericht des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages vom 6. März 2018 hatte das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) 2018 eine Summe von 25 Millionen Euro für China veranschlagt.
Deutschland hat also noch gezahlt, wenn auch wenig. Ist das gerechtfertigt? Und hätte die Bundesregierung angesichts des kometenhaften Aufstiegs der chinesischen Wirtschaft nicht viel früher die Reißleine ziehen sollen? Diese Fragen sind schwer zu beantworten. Zumal von einer Entwicklungszusammenarbeit nicht nur der Empfänger profitiert, sondern auch das Geberland seine wirtschaftlichen und politischen Beziehungen ausbauen will. Aber die Frage ließ mich nicht los. Ich habe Daten gesammelt und Statistiken gewälzt, bin auf Erwartetes und Unerwartetes gestoßen – vor allem, was die weltweite Entwicklung der Vermögen betrifft. Denn die ist dabei ziemlich entscheidend, gibt sie doch Auskunft darüber, wie bedürftig China eigentlich noch ist. Interessant ist das übrigens auch für Anleger. Wer sein Geld weltweit diversifiziert, sollte bedenken, in welchen Regionen Wirtschaft und Wohlstand auf dem Vormarsch sind und welche Regionen beziehungsweise Sektoren von diesem Aufschwung profitieren werden.
Beginnen wir mit einer einfachen Rechnung. Die 25 Millionen Euro, die das BMZ 2018 für die Entwicklung Chinas ausgegeben hat, ergeben für jeden Deutschen pro Kopf 30 Cent. Andersherum: Bei einer Bevölkerung von 1,4 Milliarden entfallen auf jeden Chinesen knapp zwei Cent. Das klingt nach Peanuts, und man fragt sich unweigerlich: Können die chinesischen Bürger diese Summe nicht selbst stemmen?
Um das zu beurteilen, muss der Betrag in Relation zum vorhandenen Vermögen betrachtet werden. Über das Vermögen gibt das jüngste Global Wealth Databook der Credit Suisse Auskunft (Ausgabe Oktober 2018). Im Gegensatz zu den meisten anderen Vermögensstudien werden hier auch Nicht-Finanzvermögen wie Immobilien einbezogen – nicht unwichtig, da auch in China die Immobilienwerte kräftig gestiegen sind. Die Schulden werden in der Berechnung abgezogen. Unsere erste Grafik zeigt die Entwicklung der so ermittelten Vermögen in verschiedenen Weltregionen.
Die Entwicklung im Reich der Mitte ist erstaunlich. Anfang des Jahrtausends verfügten die chinesischen Haushalte zusammen über ein Vermögen von 3.700 Milliarden Dollar. Jetzt ist es das Vierzehnfache – knapp 52.000 Milliarden Dollar. Das entspricht einer durchschnittlichen jährlichen Steigerungsrate von 15,8 Prozent – und das über 18 Jahre. Hongkong wird dabei übrigens nicht China, sondern dem Asien-Pazifik-Raum zugerechnet. Dessen durchschnittliches Jahreswachstum betrug in derselben Zeit lediglich 3,9 Prozent pro Jahr. Etwas höher, aber immer noch wesentlich bescheidener fielen die durchschnittlichen Wachstumsraten in den anderen Regionen aus: 4,6 Prozent in Afrika, 5,7 Prozent in Nordamerika, 5,2 Prozent in Europa, und 4,9 Prozent in Lateinamerika. Nur Indien konnte mit 10,1 Prozent halbwegs mithalten.
Zudem fällt auf, dass das Vermögensniveau nur in Afrika und Europa tiefer liegt als vor der Finanzkrise. Noch nachdenklicher aus europäischer Sicht stimmt ein Blick auf die Entwicklung der relativen Vermögensanteile.
Hielten europäische Haushalte 2007 noch 38,1 Prozent des globalen Vermögens, sind es jetzt nur noch 26,9 Prozent. In der gleichen Zeit sprang Chinas Anteil von 6,1 auf 16,4 Prozent. Während in Nordamerika und im asiatisch-pazifischen Raum die Anteile praktisch unverändert geblieben sind, gab Europa seit der Finanzkrise knapp ein Drittel seines Vermögensanteils an China ab.
Ein Vergleich der Entwicklung der aggregierten Privatvermögen ist allerdings nur bedingt aussagekräftig, da sich die Bevölkerungsstärken sehr unterschiedlich entwickeln können. Pro-Kopf-Vergleiche sind daher informativer. Auch dazu liefert das Global Wealth Databook Informationen. Das Durchschnittsvermögen eines erwachsenen (20 Jahre oder älter) Chinesen hat sich seit Beginn des Jahrtausends glatt verzwölffacht: von 4.000 auf 48.000 Dollar. Damit hat China Lateinamerika überflügelt und mit dem Rest des Asien-Pazifik-Raums gleichgezogen.
Und der Durchschnittsdeutsche? Lag sein Vermögen im Jahr 2000 noch beim 22,4-Fachen seines chinesischen Pendants, beträgt es jetzt gerade mal das 4,5-Fache.
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Doch damit nicht genug. Auch bei der Zahl der Superreichen (mit einem Vermögen von mehr als 500 Millionen US-Dollar) hat das kommunistische China mächtig zugelegt und Platz zwei in der Weltrangliste erklommen. Laut Credit Suisse leben knapp ein Viertel der 4.388 Halbmilliardäre dieser Welt in China. Nur Nordamerika beherbergt einen höheren Anteil.
Sind diese Zahlen unter einer kommunistischen Regierung überhaupt denkbar? Oder trifft zu, was mich der Politikunterricht am Gymnasium lehrte – Anfang der 1970er Jahre, als junge Referendare den Lehrkörper auffrischten? Kommunismus sei das angestrebte Endstadium, das nur über sozialistische Zwischenstadien erreicht werden kann. Befindet sich China also lediglich in einem dieser Stadien und muss die Ungleichheiten in Form von Superreichen vorübergehend in Kauf nehmen?
Auch bei diesem Thema lohnt ein Blick in die Statistik. In der Wissenschaft dient der sogenannte Gini-Koeffizient als Maß für Ungleichheit. Er nimmt Werte zwischen 0 und 100 an, wobei 0 absolute Gleichheit (alle haben gleich viel – oder wenig) und 100 maximale Ungleichheit (einer hat alles) bedeuten. In einer internationalen Studie vergleichen die Ökonomen Olle Hammar und Daniel Waldenström vom Research Institute of Industrial Economics in Stockholm die Einkommensentwicklung von 1970 bis 2015. Ergebnis: Die globale Ungleichheit in den Einkommen hat stark abgenommen.
Die Entwicklung innerhalb der jeweiligen Länder verlief allerdings unterschiedlich. In China war die Ungleichheit vor den 1990er Jahren mit einem Gini-Wert von rund 20 extrem gering. Fast alle hatten so gut wie nichts. In Folge der Wirtschaftsreformen stieg die Ungleichheit stark an, seit 2003 ist sie aber rapide zurück auf das Niveau der späten Mao-Tse-tung-Ära gefallen. Chinas Gini-Koeffizient liegt sogar wieder unter dem der USA, aber noch nicht auf dem deutschen Level. Denn auch hierzulande ist die Ungleichheit seit Anfang der 1990er Jahre signifikant gesunken: Der Koeffizient fiel von 30 auf 23.
Die Entwicklung der Einkommensverteilung in China könnte als Beleg für die Gültigkeit der sogenannten Kuznets-Kurve betrachtet werden. In empirischen Untersuchungen, die der spätere Wirtschaftsnobelpreisträger Simon Kuznets in den 1950er Jahren unternahm, fand er eine Beziehung zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und Einkommensverteilung, die in etwa einem invertierten U entspricht. Das heißt: In sehr armen Ländern ist das Einkommen meist ziemlich gleich verteilt. Mit zunehmender Entwicklung steigt die Ungleichheit zunächst an, fällt ab einem gewissen Entwicklungsniveau aber wieder ab. Klassisches Erklärungsbeispiel ist ein Wandel von einer Agrar- zur Industriewirtschaft. Aufgrund der geringen Spezialisierung in der Landwirtschaft sind die Einkommen zunächst relativ ähnlich. Mit dem Aufstieg der Industrie nehmen jedoch Spezialisierung, Effizienz und Wachstum zu. Die Spezialisierung bringt aber auch eine zunehmende Einkommensspreizung mit sich und, als Folge, wachsende Ungleichheit. Erst die mit Verzögerung einsetzenden Trickle-down-Effekte sorgen dafür, dass sich das gestiegene Volkseinkommen sukzessive nach unten verteilt und die Ungleichheit wieder abnimmt.
Als ich Anfang der 1980er Jahre Entwicklungsökonomie in England studierte, stand Kuznets’ These im Kreuzfeuer der Kritik. Die Vorstellung, dass der Wohlstand von der Oberschicht nach unten durchsickert (Trickle down), war nicht en vogue. Das Schicksal vieler Entwicklungsländer bestätigte die Zweifler. Der Zusammenhang von Wirtschaftsleistung und Einkommensverteilung in China entspricht jedoch einer lehrbuchmäßigen Kuznets-Kurve. Und China durchlief das invertierte U in nur einem Vierteljahrhundert – ein Tempo, von dem andere Volkswirtschaften nur träumen können.
Gerade am unteren Ende des Einkommensspektrums hat China Erstaunliches erreicht. Lebten laut Weltbank im Jahr 1990 zwei Drittel der Chinesen in extremer Armut, so waren es 2015 nur noch 0,7 Prozent. Ganz anders sieht es laut Paritätischem Wohlfahrtsverband in Deutschland aus. Seit Jahren registriert er hier eine steigende Armutsquote – aktuell 16,8 Prozent. Nicht nur Wohlstands-, sondern auch Armutsentwicklungen sind aus Anlegersicht von Bedeutung. Denn Armut ist neben Krieg und Terror ein Auslöser von Migrationswellen. Und der damit einhergehende Brain Drain beeinträchtigt die wirtschaftliche Entwicklung in der betroffenen Region. Müssen wir also fürchten, dass es hierzulande zu einer armutsbedingten Auswanderungswelle kommt?
Gemäß den Zahlen des Statistischen Bundesamts rollt diese Welle bereits. Von 1991 bis 2004 kehrten 3,1 Millionen Deutsche aus dem Ausland in die Heimat zurück – 1,6 Millionen mehr als im gleichen Zeitraum auswanderten. Von 2005 bis 2017 drehte sich das Vorzeichen um: Die Zahl der deutschen Auswanderer lag um knapp 600.000 Personen höher als die der Rückkehrer. Und China gehört mittlerweile zu einem der begehrteren Einwanderungsländer für Deutsche und belegt Rang 13 unter den Zielländern, allerdings weit hinter dem Favoriten Schweiz.
Jedoch scheint es nicht die Armut zu sein, die so viele Menschen aus dem Land treibt. Denn der „Stern“ berichtete, dass allein 2016 ungefähr 4.000 Millionäre Deutschland den Rücken gekehrt hatten, was in etwa einer Verzehnfachung innerhalb weniger Jahre entspricht. Die Redaktion warnt vor Konsequenzen: „Vor allem wird die wirtschaftliche Aktivität der Leistungsträger mitsamt ihrem Kapital exportiert.“ Schwacher Trost: Gemäß hiesiger Armutsdefinition verschwindet mit jedem ausgewanderten Millionär automatisch auch ein Armer aus der Statistik.
Die Diskrepanz in den Armutszahlen für China und Deutschland erstaunt zunächst, hat aber eine einfache Erklärung. Während Weltbank und Vereinte Nationen Armut absolut messen, verwendet die EU – wie auch der Paritätische Wohlfahrtsverband – ein relatives Maß: Arm ist, wer weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens verdient. Es wird also ausschließlich Einkommensungleichheit gemessen, das Einkommensniveau spielt keine Rolle. Verdienen alle exakt das Gleiche, dann ist die definitorische Armut besiegt, unabhängig von der Höhe des Einkommens. Es ist schon merkwürdig: Während das kommunistische China durch seinen Schwenk zu marktwirtschaftlichen Prinzipien die Armut dramatisch reduzieren konnte, ziehen wir in unserer Marktwirtschaft kommunistische Prinzipien zur Armutsmessung und -bekämpfung heran.
Zurück zur Frage, wie es mit der Entwicklungshilfe an China weitergeht. Laut BMZ sind 2018 alle Förderprojekte ausgelaufen. Lediglich Kofinanzierungszusagen von weniger als fünf Millionen Euro im Rahmen multilateraler Programme werden weiterhin bedient. Die Vermögensentwicklung belegt, dass China keine weiteren Finanzhilfen braucht. Und dass aus dem Reich der Mitte längst ein Reich der Mittelreichen geworden ist.
Trotzdem gibt es triftige Gründe, die Entwicklungszusammenarbeit aufrechtzuerhalten. Sie schafft Vertrauen und hält Gesprächskanäle offen. Beides wichtige Grundlagen für konstruktive Beziehungen zwischen Ländern. Der Internationale Währungsfonds erwartet, dass China um 2030 zur größten globalen Wirtschaftsmacht aufsteigen wird. Die deutsche Exportindustrie dürfte einer der größten Profiteure dieser Entwicklung werden. Zudem: Angesichts der gegenwärtigen politischen Weltunordnung ist unklarer denn je, welche wirtschaftlichen und politischen Allianzen aus deutscher und europäischer Sicht künftig besonders pflegenswert sind. So dürfte es sich am Ende sogar lohnen, dabei zu helfen, die Mittelreichen noch etwas reicher zu machen. So funktioniert schließlich globalisierungsinduziertes Wirtschaftswachstum.
Bild: Sam Lim, pexels.com
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