Scham, Schuld, Scheu – die Leiden des Selbstanlegers

6. Februar 2020  |  Prof. Dr. Stefan Mittnik
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Selbstverschuldete Verluste können beim Anleger nicht nur Selbstvorwürfe, Schuldgefühle und Scham auslösen, sondern auch unverhältnismäßige Risikoscheu und irrationales Investmentverhalten hervorrufen. Was lässt sich dagegen tun?

Die Frage, was die Wirtschaftswissenschaft zur Sinnhaftigkeit von Robo-Advice sagt, war bereits Gegenstand eines meiner Blog-Artikel. Dort verwies ich auf zwei Studien,1 die zu dem Schluss kommen, dass Privatanleger unter Rendite-Risiko-Betrachtungen besser fahren, wenn sie beim Vermögensaufbau auf Robo-Advice setzen statt auf eigene Entscheidungen. Die Gründe hat Francesco D'Acunto, Ökonomie-Professor und Hauptautor einer der Studien, in unserer Podcast-Reihe erläutert. Ein wesentlicher: Selbstentscheider tappen allzu häufig in Psychofallen, die sie auf Dauer Rendite kosten.

Nicht nur Ökonomen, sondern auch Psychologen und Mediziner haben sich in einer Vielzahl von wissenschaftlichen Untersuchungen mit dem Schicksal von Anlegern befasst. Ihnen geht es dabei weniger um das finanzielle, sondern um das gesundheitliche Wohlergehen. Und hier zeigt sich, dass nicht nur die Rendite, sondern schnell auch Psyche und Gesundheit der Selbstentscheider in Mitleidenschaft gezogen werden können.

Die Geldanlage selbst in die Hand zu nehmen, ist immer eine Option. Das erfordert allerdings Zeit, ein Mindestmaß an Lust sowie nötiges Know-how. Auch wenn all das vorhanden ist, hat das Selbstanlegen seine Schattenseiten. Dass Anleger überproportional mehr Leid bei Verlusten als Freud bei Gewinnen empfinden, ist spätestens seit den Arbeiten der Psychologen Daniel Kahneman und Amos Tversky vor rund vier Jahrzehnten allseits bekannt. Ihre Prospect-Theorie besagt, dass diese Asymmetrie die Folge menschlicher Verlustaversion ist. Konkret: Bei einer Wahlmöglichkeit zwischen einer sicheren Auszahlung in Höhe X und einer risikobehafteten Geldanlage, die im Mittel ebenfalls X abwirft, aber auch nach oben oder unten davon abweichen kann, bevorzugt der typische Anleger die erste Option.

Verluste wiegen schwerer als entgangene Gewinne

Auch der zur gleichen Zeit von Richard Thaler postulierte Besitztums- oder Endowment-Effekt begründet die Gefühlsasymmetrie. Gemäß Krimhildes Motto im Ring des Nibelungen – „Viel besser, nie besitzen, als verlieren“ – besagt dieser Effekt, dass noch nicht eingefahrene Gewinne weniger wertgeschätzt werden, als erlittene Verluste wehtun. Diese Einstellung kann irrationale Entscheidungen hervorrufen, was für Wirtschaftsakteure im Allgemeinen und für Anleger im Besonderen schwerwiegende Folgen haben kann. Für ihre wissenschaftlichen Leistungen erhielten Kahneman im Jahr 2002 (Tversky verstarb bereits 1996) und Thaler 2017 jeweils den Nobel-Gedächtnispreis in Wirtschaftswissenschaften.

Nicht nur das Empfinden von Freud und Leid ist bei Gewinnen und Verlusten asymmetrisch. Beide Ereignisse werden auch mental unterschiedlich verarbeitet. Dies ergaben Experimente, die Camelia Kuhnen von der University of North Carolina mit Studierenden der Northwestern University in den USA und der Babeș-Bolyai Universität in Rumänien durchführte.2 Verluste führen zu übertriebenem Pessimismus. In der Folge übersteigen subjektive Risikoeinschätzungen das objektive Risiko signifikant. Werden hingegen Gewinne erzielt, hat das kaum einen Einfluss auf die Risikoeinschätzung. Dieser Pessimismus-Bias hat also zur Folge, dass Anleger nach erlittenen Verlusten die Anlagerisiken bei künftigen Entscheidungen systematisch überschätzen. Die Konsequenzen sind Unterinvestitionen in risikobehaftete Anlagen – sprich: Aktien – und letztlich Defizite im Vermögensaufbau.

Noch einen Schritt weiter geht eine Studie an der Universität Tübingen. Hier wurde zusätzlich untersucht, ob es einen Unterschied macht, wenn Gewinne beziehungsweise Verluste endogener oder exogener Natur sind, mit anderen Worten: ob sie selbst- oder fremdverursacht sind. Das internationale Forscherteam unter Leitung von V. S. Chandrasekhar Pammi3 vom Centre of Behavioural and Cognitive Sciences der indischen Universität Allahabad fand heraus, dass selbstverursachte Verluste ein anderes Risikoverhalten hervorrufen als fremdverursachte. Dazu wurde Studierenden eine Folge von Gewinnspielen angeboten, bei denen sie jeweils eine zufällige 50:50-Chance hatten, Geld zu gewinnen oder zu verlieren. Bei einem Teil der Spiele wurde den Teilnehmern allerdings suggeriert, dass das Ergebnis durch eigene Entscheidungen verursacht war. In den anderen Fällen glaubten sie, keinen Einfluss auf den Ausgang gehabt zu haben.

Wer meint, selbst schuld am Verlust zu sein, wird besonders risikoscheu

Das Ergebnis: Teilnehmer, die annahmen, dass sie ihren Geldverlust selbst zu verantworten hatten, agierten in der Folge wesentlich risikoscheuer. Wer kein eigenes Verschulden vermutete, dessen Risikotoleranz änderte sich nur unwesentlich. Bei Gewinnen hingegen spielte es keine Rolle, ob diese als exogen oder endogen verursacht wahrgenommen wurden. Es kam nicht zu asymmetrischen Reaktionen im Risikoverhalten.

Angesichts dieser Studienergebnisse verwundert es nicht, dass Anleger, die sich bei den Telekom-Börsengängen um die Jahrtausendwende erstmals zu einem Aktienkauf durchgerungen und dabei die Finger verbrannt hatten, der Börse wieder schnell und dauerhaft den Rücken kehrten. Das wäre vielleicht nicht der Fall gewesen, wenn ein Dritter, zum Beispiel ein Vermögensverwalter, zu dem Investment geraten hätte.

Ein zusätzliches Schmankerl der Tübinger Studie war, dass die Teilnehmer ihre Entscheidungen in einem funktionalen Magnetresonanztomographen (fMRI) trafen, der ihre Hirnaktivitäten aufzeichnete. Dabei zeigte sich, dass bei vermeintlich selbstverursachten Verlusten andere Hirnregionen aktiviert wurden als bei fremdverursachten. Anders als bei Fremdverursachung werden bei selbstverursachten Verlusten bestimmte Regionen in der vorderen Hirnrinde aktiviert. Diese werden mit der emotionalen Verarbeitung von Schuld- und Schamgefühl assoziiert, wie verschiedene fMRI-Untersuchungen4 ergeben haben. Ein Ergebnis, das mit der Erkenntnis übereinstimmt, dass selbstverschuldete Verluste Selbstvorwürfe und Schuldgefühle auslösen.

Feste Entscheidungsregeln schützen vor Psychofallen

Nicht nur die psychischen Implikationen sprechen somit dagegen, dass der Privatanleger beim Vermögensaufbau das Heft selbst in die Hand nimmt. Auch sind es die zwangsläufigen Fehlentscheidungen, wenn seine Risikoeinschätzungen nicht von objektiven Gegebenheiten abhängen, sondern davon, wer oder was die Verluste verursacht.

Aus all dem ergeben sich für den Anleger folgende Handlungsempfehlungen:

  • Er kann verlustträchtige Psychofallen, bedingt durch Asymmetrien (Prospect-Theorie, Endowment-Effekt) und fehlgeleitetes Lernverhalten (Pessimismus-Bias), am besten vermeiden, indem er feste Entscheidungsregeln aufstellt. Diese müssen sich an den tatsächlichen und nicht den subjektiv empfundenen Anlagerisiken orientieren. Und: Der Investor muss sich strikt an dieses Regelwerk halten.
  • Sollte der Anleger zu Selbstvorwürfen und Schuldgefühlen neigen, wenn eigene Anlageentscheidungen floppen, dann empfiehlt es sich, den Investmentprozess auszulagern. Eine regelgebundene und risikoorientierte Vermögensverwaltung wäre hier prädestiniert, da sie die gerade beschriebenen Anlageprinzipien befolgt. Und da auch Investmentprofis kaum weniger vor Psychofallen gefeit sind, wäre eine automatisierte Umsetzung des Regelwerks zu bevorzugen.
  • Falls dem Anleger Lust, Zeit oder das nötige Wissen fehlt, um ein entsprechendes Regelwerk auf- und auf Dauer umzusetzen, dann ist die Auslagerung keine Empfehlung, sondern ein Muss. Denn ansonsten startet der gezielte Vermögensaufbau erst am Sankt-Nimmerleins-Tag oder die Eigenversuche bleiben unvollkommenes Stückwerk.

Teile dieses Artikels veröffentlichte der Autor am 12. Januar 2020 als Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.


1 Francesco D’Acunto, Nagpurnanand Prabhala, Alberto G. Rossi, The Promises and Pitfalls of Robo-Advising, Review of Financial Studies, 2019, 32 (5), 1983–2020; und Catherine D’Hondt, Rudy De Winne, Eric Ghysels, Steve Raymond, Artificial Intelligence Alter Egos: Who benefits from Robo-investing?, 6. Juli 2019, https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=3415981

2 Camelia M. Kuhnen, Asymmetric Learning from Financial Information, Journal of Finance, 2015, 70 (5), 2029-2062.

3 V. S. Chandrasekhar Pammi, Sergio Ruiz, Sangkyun Lee, Charles N. Noussair, Ranganatha Sitaram, The Effect of Wealth Shocks on Loss Aversion: Behavior and Neural Correlates, Frontiers in Neuroscience, April 2017, 11, Article 237.

4 Siehe: Petra Michl, Thomas Meindl, Franziska Meister, Christine Born, Rolf R. Engel, Maximilian Reiser, Kristina Hennig-Fast, Neurobiological underpinnings of shame and guilt: a pilot fMRI study. Social Cognitive and Affective Neuroscience, 2014, 9 (2), 150–157; und Neil Mclatchie, Roger Giner-Sorolla, Stuart W. G. Derbyshire, ‘Imagined guilt’ vs ‘recollected guilt’: implications for fMRI, 2016, Social Cognitive and Affective Neuroscience, 11 (5), 703–711.

Bild: Malabika Roy, shutterstock.com

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Stefan Mittnik
Prof. Dr. Stefan Mittnik
GRÜNDER, WISSENSCHAFTLICHER BEIRAT
Stefan ist Professor für Finanzökonometrie und Direktor des Center for Quantitative Risk Analysis an der Ludwig-Maximilians-Universität in München sowie Fellow am Center for Financial Studies (CFS) in Frankfurt. Nach der Promotion in den USA lehrte er in New York und Kiel, bevor er 2003 nach München wechselte. Er war Mitglied des Forschungsbeirates der Deutschen Bundesbank, Fachkollegiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft sowie Forschungsdirektor am CFS und Ifo-Institut und hatte mehrere Gast- und Ehrenprofessuren in den USA inne. Seit rund 30 Jahren forscht er zu Fragen der Analyse, Modellierung und Prognose von Finanzmarktrisiken und entwickelt Verfahren, bei denen empirische Relevanz statt finanzmathematischer Eleganz im Vordergrund stehen.