Warum die Börse nicht übertreibt

31. Januar 2020  |  Tobias Aigner
uebertreibung an der boerse 1920
Nach zehn Jahren Kursanstieg sind die Börsen in einer Phase der Übertreibung, sagen Pessimisten. Stimmt das? Ein Blick auf die US-Aktienrenditen gibt deutliche Hinweise.

Wenn irgendwo ein Gespräch über den gut zehn Jahre laufenden Bullenmarkt in Gang kommt, dann dauert es meist nicht lange, bis jemand die üblichen Stereotype fallen lässt. Sie lauten in etwa so:

  • Die Hausse wird nur vom billigen Geld der Notenbanken befeuert.
  • An den Aktienbörsen herrscht eine ungesunde Übertreibung.
  • Der Bullenmarkt dauert viel zu lange, es muss bald einen Crash geben.

Wenn Sie unseren Blog kennen, dann wissen Sie vermutlich, dass es ein ziemlich hoffnungsloses Unterfangen ist vorherzusagen, wie sich die Kurse auf Sicht von Wochen, Monaten oder wenigen Jahren entwickeln. Trotzdem wollen wir anhand einiger Börsendaten prüfen, wie berechtigt die oben geäußerten Warnungen sind.

Eine ähnliche Analyse haben auch der Finanz-Blogger Ben Carlson und der Bloomberg-Kolumnist Nir Kaissar durchgeführt. Interessanter Ausgangspunkt der Untersuchungen ist eine Aufstellung der Zehn-Jahres-Renditen am US-Aktienmarkt seit 1880. Für jede Dekade wird zum einen die Aktienmarktrendite angegeben und zum anderen die Komponenten, aus denen sich diese Rendite zusammensetzt. Es war John Bogle, der „Erfinder“ der Indexfonds und Gründer der US-Investmentgesellschaft Vanguard, der gezeigt hat, dass Aktienmarktrenditen im Wesentlichen aus drei Komponenten bestehen: Dividendenrendite, Wachstum der Unternehmensgewinne sowie Veränderung der Aktienmarktbewertung, gemessen am Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV). Dabei gilt die Faustformel:

Aktienmarktrendite = Dividendenrendite + Gewinnwachstum + Bewertungsveränderung

Historische Daten dazu hat der Wirtschaftsnobelpreisträger Robert Shiller zusammengetragen. So sehen sie aus:

US-Aktienmarktrenditen und deren Komponenten in den 14 Dekaden seit 1880
(in % p.a.)

uebertreibung an der boerse table
Quelle: Robert Shiller, Bloomberg. Hinweis: Weder vergangene Wertentwicklungen noch Prognosen haben eine verlässliche Aussagekraft über zukünftige Wertentwicklungen.

Die wichtigsten Erkenntnisse für die aktuelle Börsenhausse sind:

  • Der Löwenanteil der durchschnittlichen jährlichen Aktienrendite von gut 13 Prozent in den 2010er Jahren ist auf wachsende Unternehmensgewinne zurückzuführen.
  • Die Veränderung der Aktienbewertung hat nur sehr wenig zur Gesamtrendite beigetragen.

Damit lassen sich die eingangs erwähnten Behauptungen der Pessimisten kaum aufrechterhalten. Vielmehr zeigt sich, dass die seit gut zehn Jahren laufende Aktienhausse fundamental gut untermauert ist, da die Unternehmen in diesem Zeitraum ihre Gewinne so stark steigern konnten wie in keiner Dekade zuvor. Hinzu kommt, dass die Analyse nicht auf eine irrationale Übertreibung hindeutet. In einer Börseneuphorie werden die Kurse vor allem durch die Anlegerpsyche getrieben, das heißt: Die Aktienbewertung legt stark zu, weil die Kurse ohne fundamentalen Grund nach oben schießen. Genau das ist in den vergangenen zehn Jahren aber nicht passiert. Ganz anders als in den 1950er, 1980er und 1990er Jahren. Damals stammte tatsächlich ein großer Teil der Aktienrenditen von steigenden Bewertungen. Und was auf die letzte dieser Dekaden folgte, daran werden sich einige Anleger noch erinnern: Im Dotcom-Crash, der im März 2000 startete und drei Jahre dauerte, büßte der DAX zwischenzeitlich fast drei Viertel seines Wertes ein.

Werfen wir noch einen Blick auf den Zusammenhang zwischen Aktienrenditen und Gewinnwachstum. Er wird in der nächsten Grafik veranschaulicht, zusammen mit einer Regression, die die erwartete Aktienrendite in Abhängigkeit vom Gewinnwachstum angibt.

Alles im normalen Bereich in den 2010er Jahren

US-Aktienrenditen in Abhängigkeit vom Wachstum der Unternehmensgewinne (jeweils in % p.a.)

uebertreibung an der boerse graph
Quelle: Robert Shiller, Bloomberg, eigene Berechnungen. Hinweis: Weder vergangene Wertentwicklungen noch Prognosen haben eine verlässliche Aussagekraft über zukünftige Wertentwicklungen.

Auch hier fällt auf: Von Überschwang in der vergangenen Dekade fehlt jede Spur. Die US-Aktienrendite lag in den 2010er Jahren fast exakt dort, wo man sie bei dem erzielten Wachstum der Unternehmensgewinne erwarten würde. In den 1990er Jahren hingegen fuhr die Wall Street im Schnitt satte 18 Prozent Rendite pro Jahr ein, obwohl das Gewinnwachstum nur auf ein „gesundes“ Plus von knapp zwölf Prozent hindeutete – eine klassische Übertreibung. Umgekehrt tendierte die New Yorker Börse zum Beispiel in den 2000er Jahren zur Untertreibung. Obwohl die erwartete durchschnittliche Jahresrendite bei 6,7 Prozent pro Jahr lag, verlor der US-Aktienmarkt im Schnitt jährlich 0,7 Prozent.

Was heißt das nun? Dass in absehbarer Zeit kein Crash kommt? Das wissen wir nicht. Den Zeitpunkt für einen Kurssturz an den Börsen kann niemand vorhersagen. Und ein Crash kann andere Ursachen haben als ausufernden Optimismus. Wenn aber die Schwarzmaler davon sprechen, dass sich der Aktienmarkt in einer Blase befindet und dass er nach einer so langen Hausse heißgelaufen ist, dann sollte man wissen: Der Kursanstieg steht auf einem ziemlich soliden Fundament, ein Missverhältnis zwischen Gewinnwachstum und Rendite ist nicht erkennbar.

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Tobias Aigner
Tobias Aigner
EDITOR IN CHIEF (Ehemals)
Tobias ist Finanz- und Wirtschaftsjournalist mit mehr als 20 Jahren Berufserfahrung. Zuletzt arbeitete er als leitender Redakteur für das Wirtschaftsmagazin €uro. Zuvor war er für Capital, Börse Online, die Financial Times Deutschland und die Süddeutsche Zeitung tätig. In seinen Kommentaren, Analysen und Features setzte er sich vor allem mit den Themen Börse, Risikomanagement und regelbasierte Anlagemodelle auseinander. Tobias hat Physik an der TU München studiert.